Aufführungen von Jyoti Ram lassen den materiellen Menschen des 21. Jahrhunderts fast erschrocken innehalten. Ob beim Mittelalterfest in der Katharer-Stadt Mirepoix oder beim Straßenkunst-Festival in Landshut, wenn Jyoti Ram am Straßenrand (Mirepoix, August 2016) oder in der zugigen Ecke einer Altstadt-Arkade (Landshut, September 2016) seinen Teppich ausrollt und mit Körperbeherrschung, Glaskugeln und banalsten Alltagsgegenständen, wie ein paar gebrochenen Ästen von einem trockenen Strauch, eine halbstündige Show des Übernatürlichen aufführt, dann bleibt bei den meisten Zuschauern kollektive Betroffenheit zurück.
Jyoti Ram ein echter Sadhu?
Wie kann es etwa sein, dass ein trockener Ast ohne erkennbare Verankerung halb schräg auf einem Pflasterstein stehen kann und sogar quer einen weiteren Ast zu tragen vermag – auch ohne erkennbare Befestigung? Gut möglich, dass Jyoti Ram ein echter Sadhu ist, der die Fähigkeit besitzt, die Devas1 zu rufen und zu dirigieren? Devas, nicht sichtbare Naturkräfte, Aufhebung der Naturgesetze – von einem „Schausteller“ am Straßenrand? Das kann der ganz im materielles Sein fokussierte Mensch des westlichen Kulturkreises nicht ansatzweise wissen oder verstehen. Und genau das macht betroffen.
Aufführungen des Übernatürlichen mögen in Frankreich oder Deutschland Aufsehen erregen, im Indien der altehrwürdigen Hindu-Tradition ist das Übernatürliche selbstverständlicher Teil des Alltags. Hier würde sich eher die Frage stellen: Ist der Künstler ein Fakir2, Sadhu oder Guru3? Ein Fakir vermag allein Kraft seines asketischen Lebensstils unerklärliche Phänomene herbeizuführen, etwa sich eine Nadel durch die Wangen zu stechen, ohne dass es blutet oder am Ende eine Narbe entsteht. Mit Weisheit und Spiritualität hat das aber nichts zu tun. Ein Sadhu hingegen gilt als Heiliger, weil sein Asketismus Teil einer spirituell-philosophischen Lebenshaltung ist. Ein echter Sadhu wird aber in Indien niemals übernatürliche Phänomene zur Unterhaltung der Massen oder gegen Bezahlung aufführen. Das würde ihn sofort dikreditieren. Ein Guru ist – wenn er eines solchen Titels wirklich gerecht wird – ein Heiliger im Range eines spirituellen Lehrers.
Ist unser „Schausteller“ am Straßenrand nun eher Guru, Sadhu oder Fakir? Immerhin tritt er für Hutgeld auf, sitzt zwischen Bratwurst essenden und Bier trinkenden Passanten im Straßenstaub? Ein nicht gerade spirituell anmutendes Ambiente. Aber ist jenseits des Rinnsteins das „Ambiente“ spiritueller? Menschenmassen, die sich wie unter Hypnose dazu anstiften lassen sich Dingen hinzugeben, die sie seelisch beschädigen und physisch verzehren? Menschenmassen die willig und ohne kritisches Hinterfragen selbsterklärten Führern hinterherlaufen, um dieses oder jenes Produkt als Fetisch zu vergöttern oder diesen Krieg pathetisch zu bejubeln, jenen aber exaltiert zu verurteilen – je nach Interessenlage der Führer? Menschen also, die wie Korken auf der bewegten Oberfläche des Ozeans von Sinneseindrücken und gelenkten Meinungsströmen getrieben werden, Menschen befangen im Irrglauben einer exklusiven einmaligen Existenz, ausgestatt nach dem Zufallsprinzip? Der Rinnstein ist überall.
Tiefseefische können keine Ahnung vom Gleitflug eines Adlers haben
Wenn man das vermag, was Jyoti Ram vermag, dann kann ein Leben von Hutgeld als Opfer angesehen werden. Jyoti Ram mag daher Guru sein, ein weiser Lehrer, der sich demütig an den Rinnstein setzt, um den aus spiritueller Sicht schlafwandelnden Passanten im Vorbeigehen ein Aufrütteln mitzugeben: Leute, eure Welt des Sichtbaren ist nicht die ganze Welt; der Tiefseefisch kann keine Ahnung vom Gleitflug eines Adlers haben. Denkt darüber nach. Es kann aber auch sein, dass Jyoti Ram doch „nur“ ein Sadhu ist. In seiner Biografie nennt er ein Hochschulstudium, Promotion an einem Institut und schließlich den Lehrergrad in einer Kampfkunstform, ein gelehrter Mann also allemal. Letztlich muss sich jeder selbst die Frage beantworten, ob die paranormale Inszenierung von Jyoti Ram bedeutet, dass doch jenseits der materiellen Welt subtile Kräfte existieren, die – einmal herbeigerufen – dem Menschen zu Diensten sein können. ANDREAS BUBROWSKI
JYOTI show