Launige Bildnotizen von einer Reise ins Land der Katharer
Spätestens als an diesem bewölkten August-Abend in der Kirche von Roquefixade1 die Sopranistin Marina Bartoli, vom Altar aus den Mittelgang entlang schreitend, dabei scheinbar mit jedem einzelnen Konzertbesucher Blickkontakt suchend, die mutmaßliche Katharer-Hymne Lo Boièr erklingen lässt, wird klar – Occitània2, das Land der unsterblichen Katharer, lebt.
Roquefixade – Okzitanien pur
Doch von vorn. Nachdem auch an diesem Vormittag der Versuch, Montségur wolkenfrei zu erleben, gescheitert war, ging es weiter ins nur rund 40 Minuten Fahrt entfernte Roquefixade. Nach kurzem schweißtreibenden Aufstieg, oberhalb des „gespaltenen Felsens“ auf dem die Burgruine steht und dem Burg und Dorf ihren Namen verdanken (Roca Fissada) angekommen, steigt der Gedanke auf, dass es von hier aus mit Montségur eine Kommunikation via Feuer- und Rauchzeichen gegeben haben muss. Später findet sich im Reiseführer diese These bestätigt. Während linkerhand Montségur liegt, ist bei guter Fernsicht rechterhand Toulouse auszumachen. Optimaler „Funk-Standort“.
Leider ist der Zugang zur Burgruine aus bautechnischen Gründen gesperrt. Man kann also nur von weitem einen Blick auf die Felsspalte werfen. Wieder unten auf dem Dorfplatz mit Brunnen angekommen – Stille, die nur kurz von ein paar fußballernden Jungen gebrochen wird. Beeindruckend das Rathaus des gut 150 Einwohner zählenden Dorfes. Die grell-bunte Fassadengestaltung wirkt fast provokant. Und dann ostentativ neben Trikolore und EU-Flagge die Fahne der Katharer. Die Häuser scheinen alle wert zu sein unter Denkmalschutz zu stehen. Nur an den modernen Fenstern und Türen lässt sich die technisierte Neuzeit erkennen. Man hat den Eindruck aus der Zeit zu fallen, je länger die Sinne dem Plätschern des Brunnenauslaufs folgen.
Frankreich
Roquefixade
Es ist Nachmittag, die Wolken haben an Höhe gewonnen. Von ferne Gesang. Er dringt aus der offen stehenden Kirche rechterhand. Was für ein Glücksfall, ich werde Zeuge der Proben zu einem Konzert, das laut Plakat am Kirchentor 21 Uhr beginnt. Mutig folge ich zügig der engen steilen Abfahrt, die das Navigationsgerät vorschlägt. Zum Glück kein Gegenverkehr3. Eile tut not. Schließlich muss ich in ein paar Stunden wieder hier sein. Auf der Rückfahrt zum Hotel drängt sich die Frage auf, wie sich wohl in dieser abgelegenen Gegend Konzertbesucher finden lassen.
Doch dann passiert etwas
Abends ist die Kirche fast ganz besetzt. Geschätzt 250 Besucher sind zum Konzert gekommen. Das britisches Paar neben mir und ich sind vermutlich die einzigen Fremden. Die Menschen scheinen alle miteinander bekannt. Die fein herausgeputzte Menge hier mitten im menschenleer anmutenden Dorf vermittelt einen irrealen Eindruck. Wie es sich für diesen Ort gehört – der Schein trügt. Im Lokalblatt LA DÉPÊCHE ARIÈGE hat ein halbseitiger Artikel auf das Konzert hingewiesen, das zudem die Eröffnung einer fünfteiligen Veranstaltungsreihe unter dem Motto ROCAFIXADA ist. Also ganz normal. Das Ensemble ARTEMANDOLINE führt Werke des Barock mit Mandolinen, Barock-Gitarre, Geige, Cello und Cembalo auf. Selten kann man heute noch den warmen weichen Klang von Mandolinen und dann auch noch so meisterhaft orchestral aufgeführt erleben. Die Sopranistin Marina Bartoli begleitet mit bezaubernd hellem Gesang.
Soweit so kulturell – wie an touristisch interessanten Orten üblich. Doch dann passiert etwas. Marina Bartoli beginnt ohne instrumentale Begleitung zu singen. Ein nicht erklärbares subtiles Knistern geht durch die Reihen. Dann sind alle im Raum mit einem Mal wie erstarrt. Langsamen Schrittes scheint Marina Bartoli im Mittelgang zu schweben. Ganz nahe ist sie jetzt den erhaben lauschenden Menschen. Jedem Einzelnen. Es ist, als ob durch dieses Lied etwas auf die Anwesenden übertragen wird und zugleich sich in ihnen etwas öffnet. Der sprachunkundige Deutsche versteht NICHTS, realisiert aber eine subtile und doch unüberwindliche den Raum erfüllende Präsenz oder Kraft. Als das Lied endet, kurz bevor der Applaus losbrandet – tiefe Stille. Erst Tage später, nach einigen Recherchen, wird erklärbar, was sich ereignet hat. Marina Bartoli hatte die „Katharer-Hymne“, „Lo boièr“, intoniert. In der Ursprache, auf Okzidanisch. Eine entfernte Vorstellung der Intonierung vermittelt das Video von Hans-Andre Stamm. In der Videobeschreibung findet sich das mysthische Poem auf Okzidanisch, Französisch und Deutsch. ANDREAS BUBROWSKI
Roquefixade-Website: www.roquefixade.fr